Liebe Freunde des Hauses Kröll!
Sicher habt Ihr es auch schon bemerkt: In Johnsbach ticken die Uhren anders. Wenn man dort mit dem Zeitgefühl des Städters – dieser von einem durchgetakteten, zeitfressenden Alltag geprägten inneren Uhr – ankommt, wundert man sich, wie viel Leben in einen einzigen Tag passt. Wenn dann aber eine Woche vorbei ist, hat man nach dem dahinplätschernden Gleichklang der Tage das Gefühl, als wäre erst ein Tag vergangen.
Dies erklärt vielleicht auch, warum man mit den Johnsbachern keine Termine ausmachen kann. Vorher anzurufen und sich für die – vielleicht nur ganz kurze – Zeit des Aufenthalts dort zu verabreden, hat keinen Zweck. Es ist, als hätte die Wirklichkeit in dem engen Tal, das schon so oft von der Außenwelt abgeschnitten war, keine Berührung mit der Welt da draußen.
In der Tat kann ja auch niemand wissen, was bis zur nächsten Woche passiert: ob den Reisenden etwas dazwischenkommt, ob sie auf der Autobahn stecken bleiben, ob die Straße nach Johnsbach mal wieder von Muren verschüttet sein wird, ob die Welt untergeht … Warum sollte man da Termine für die kommende Woche ausmachen? Ist das nicht sogar anmaßend? Fordert man damit nicht geradezu das Schicksal dazu heraus, seinen Eigen-Sinn, seine Eigenmächtigkeit zu demonstrieren?
Demnach gilt also: In Johnsbach ist man, wenn man in Johnsbach ist. Wer heute angibt, morgen in Johnsbach zu sein, könnte genauso gut behaupten, morgen auf dem Mars zu landen. Was ist, das ist, was wird, das weiß man nicht.
Da nun aber Johnsbach ein sehr weiträumiger Ort ist und die Häuser weit über das Tal verstreut sind, dauert es immer eine Weile, bis die Wirklichkeit des Reisenden Eingang findet in die Johnsbacher Wirklichkeit. Die Folge: Hält man sich nur für kurze Zeit in Johnsbach auf, so finden Treffen mit Menschen, die in der Johnsbacher Wirklichkeit verwurzelt sind, regelmäßig kurz vor der Abreise statt: „Ach, du fährst schon ab? Aber du bist doch gerade erst angekommen …“
Man tut also gut daran, etwaige Besorgungen nicht für den letzten Tag einzuplanen und Abschiedsspaziergänge durch die schöne Bergwelt besser auf den vorletzten Tag zu legen.
Auch bei unserem diesjährigen Herbstbesuch in Johnsbach war alles wie immer. Wir hatten gerade unseren Jahresrückblick verfasst – Ende Oktober: was für ein Leichtsinn! –, als das übliche Letzter-Tag-Klopfen an der Tür zu hören war. (Doch, wir haben auch eine Klingel in Johnsbach; aber die übliche Eintrittsfolge dort ist: Klopfen-„Hallo“-Eintreten; die Türen sind ohnehin nicht verschlossen, die Übergänge zwischen Drinnen und Draußen gleitender als anderswo.)
Auftritt des Nachbarn: „Ach, seid ihr auch mal wieder im Lande … Ich hätt‘ da mal ’ne Frage …“
Inhalt der Frage: Weiter oben im Johnsbachtal wohnt eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern auf einem alten Bauernhof. Die Fürsorge (sprich: das Jugendamt) hat beanstandet, dass die Wohnverhältnisse auf dem Hof – keinerlei sanitäre Einrichtungen, kein fließendes Wasser, Schimmel an den Wänden, ein undichter Kaminofen, der die Wohnstube einräuchert – nicht den heutigen Standards für das Aufwachsen von Kindern entsprechen. Die Familie müsse daher entweder umziehen, oder man werde die Kinder anderweitig – in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie – unterbringen.
Lösungsvorschlag des Nachbarn: Da das Haus Kröll schon zwei Mal Wintergäste beherbergt hat, könnte es doch auch dieses Mal wieder als Übergangsquartier genutzt werden, bis für die Familie eine dauerhafte Unterbringungslösung gefunden wäre.
Nüchtern betrachtet, klingt das natürlich ganz logisch: Das Haus steht im Winter meist leer, es ist ohnehin eine Art Fern-WG, eine virtuelle Kommune – warum sollte es also nicht von Menschen genutzt werden, die dringend Wohnraum benötigen, zumal wenn es sich um eine Familie handelt, die andernfalls womöglich behördlicherseits auseinandergerissen wird?
Das Problem ist nur: Mit unseren Wintergästen haben wir einmal sehr gute, einmal aber auch sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Dass der Ausgang eines solchen Projekts offen ist, liegt wohl in der Natur der Sache. Denn die Überlassung eines Hauses als Winterquartier setzt eine komplexe psychologische Dynamik in Gang. Es ist eben etwas anderes, ob man jemandem eine Tafel Schokolade schenkt oder ob man Verantwortung für die Grundbedürfnisse eines anderen übernimmt. In beiden Fällen ist die spontane Reaktion Dankbarkeit. In letzterem Fall kann die Abhängigkeit, in die der Empfänger von seinem Gönner gerät, auf die Dauer aber zu Spannungen führen, durch die sich die Dankbarkeit in Feinseligkeit verwandeln kann.
Dahinter steht ein ganz banaler psychologischer Mechanismus: Je länger man ein Haus, das einem anderen gehört, bewohnt, desto mehr fühlt man sich dort zu Hause – und desto mehr hat man folglich das Gefühl, das Haus gehöre eher einem selbst als dem Fremden, der es doch gar nicht bewohnt. Warum also sollte man diesem Fremden dankbar sein, wenn er einem etwas überlässt, das er gar nicht benötigt? Ist es nicht eher umgekehrt? Muss nicht der Hausbesitzer dem Hausbewohner dankbar sein, dass dieser das Haus in Ordnung hält?
So wird aus dem Hausüberlassungs- ein Hausbesetzerprojekt. Das Problem: Man kann dieser Logik – gerade wenn man im Grunde seines Herzens ein Kommunarde ist – ihre Berechtigung nicht absprechen. Es ist nur so, dass es einem als Kommunarde nicht gerade angenehm ist, wenn man als eine Art Immobilienhai gilt. Außerdem ist bei der Hausbesetzerlogik in der Regel nicht vorgesehen, dass der Hausbesetzer die laufenden Kosten für das Wohnobjekt übernimmt. So wird aus dem Gönner am Ende ein Bonze, dem es nur recht geschieht, wenn andere sein unproduktives Vermögen nutzen, um ihr Überleben zu sichern.
Wie gesagt: Alles irgendwie nachzuvollziehen. Nur fühlt es sich eben nicht gut an, als Dagobert Duck der Bergwelt wahrgenommen zu werden.
Was also tun in einem solchen Fall, wenn für die Entscheidung gerade mal ein halber Tag bleibt? Nun ja: das Naheliegende. Viel Auswahl hatten wir unter den gegebenen Umständen ja eh nicht. Wir haben uns also mit der Familie getroffen: mittags mit Vater und Kind, nachmittags mit Mutter und Kind, weil beide Eltern versetzt arbeiten, um Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Schon das spricht ja für die Eltern: dass sie trotz widrigster Umstände alles dafür tun, damit es ihren Kindern an nichts fehlt. Dem entsprach auch die liebevolle Art, mit der sowohl die Mutter als auch der Vater mit den Kindern umgegangen sind.
Der Eindruck war: Jemand, der so geduldig und verständnisvoll mit seinen Kindern umgeht, kann kein schlechter Mensch sein. Was uns zusätzlich für die Familie eingenommen hat, war ihre offene, unkomplizierte Art. Hinzu kam die Freude der älteren (vierjährigen) Tochter an den kleinen, für andere selbstverständlichen Dingen des Lebens. Aufgefallen ist uns das zunächst dadurch, dass die Kleine laufend aufs Klo gegangen ist. Wir dachten zuerst, sie hätte eine Blasenentzündung. Bis sie freudestrahlend zu ihrer Mama sagte: „Da ist ein Klo mit Wasserspülung – wie in der Stadt!“
Die Situation sieht jetzt so aus, dass wir der Familie das Haus bis April nächsten Jahres überlassen haben. Mit der Gemeinde ist abgesprochen, dass der Bauernhof der Familie bis dahin wenigstens notdürftig saniert werden soll. Das Gespräch mit Bürgermeister Watzl hat uns noch einmal darin bestärkt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Er ist Sozialdemokrat wie unser Nachbar, und das passt dann wieder sehr gut zum Haus Kröll, wo der Hausherr einst, der örtlichen ÖVP-Mehrheit zum Trotz, ein „Kreisky-Stüberl“ eingerichtet hatte.
Allerdings, um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Die Uhren ticken in Johnsbach eben anders. Ob die Sanierungsarbeiten tatsächlich bis zum Frühling abgeschlossen sind, kann heute noch keiner wissen. Und natürlich wird niemand eine junge Familie aus dem Haus werfen, nur um dort Urlaub zu machen. Feste „Buchungen“ für das kommende Jahr können wir daher jetzt noch nicht entgegennehmen. Vormerkungen sind möglich, aber eben unter dem Vorbehalt des spezifischen Johnsbacher Zeitempfindens. Wir halten Euch auf dem Laufenden!
Zu ergänzen wäre noch, dass die Familie die Nebenerwerbslandwirtschaft von der Oma der Mutter übernommen hat. Diese Oma hat sich von den gesundheitsgefährdenden Lebensbedingungen in ihrem Haus nicht davon abhalten lassen, dort wohnen zu bleiben. Wie eine Kapitänin auf einem untergehenden Schiff harrt sie auf dem Bauernhof aus, zutiefst überzeugt davon, dass Fortgehen gleichbedeutend wäre mit dem Tod.
Es gibt im Internet einen kurzen Film über die alte Frau. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, auf welch seltsamen Wegen sich Naturverbundenheit, Aberglaube, Religiosität und die Erfahrung eines entbehrungsreichen Lebens auf einem Bergbauernhof hier zu der spezifischen Humanität und dem hintergründigen Humor einer alten Bäuerin verbinden, sollte sich das Filmchen unbedingt ansehen. Hier der Link: Anna Traisch
Eine angenehme Adventszeit wünschen Euch
Eure Herbergseltern.